CSD Bielefeld: Rede der BISS-Vorstandsmitglieder Sigmar Fischer und Georg Roth

Die Rede als PDF

 

Auf jedem CSD erinnern wir uns gern an dessen Ursprünge: An den Aufstand von New Yorker Schwulen, Lesben und Trans gegen Polizeiwillkür am 28. Juni 1969 in und vor der Bar Stonewall Inn. Was aber viele unter uns nicht mehr wissen: Zu diesem Zeitpunkt galt in der Bundesrepublik Deutschland noch der § 175. Das bedeutete konkret: Einvernehmlicher Sex zwischen Männern galt als Straftat. Schon gegenseitiges Masturbieren konnte für eine strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung ausreichen. Dieser Paragraf war 1949 unverändert in seiner von den Nazis verschärften Form in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland übernommen worden.

Homosexuelle Männer wurden auch in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1969 unnachgiebig von Polizei und Justiz verfolgt. Diejenigen, die von den Nazis in Zuchthäuser und Konzentrationslager eingesperrt, schikaniert und gefoltert worden waren, trafen wenige Jahre später auf dieselben Polizisten und Richter im Dienst der jungen Bundesrepublik Deutschland. Man geht heute für den Zeitraum von 1949 bis 1969 von 100.000 Ermittlungsverfahren und 50.000 Verurteilungen aus – genauso viele Urteile wie in den 12 Jahren nationalsozialistischer Schreckensherrschaft.

Der § 175 wurde zum 1. September 1969 und nochmals 1973 entschärft und wurde erst 1994 gänzlich aus dem Strafgesetzbuch des wiedervereinigten Deutschland gestrichen. Erst nach 1969 konnte sich nach und nach offenes schwules Leben in der Bundesrepublik Deutschland entwickeln und konnten sich Schwule in Aktionsgruppen organisieren, um für rechtliche und gesellschaftliche Gleichberechtigung zu kämpfen.

Aber es dauerte bis zum 11.Mai 2016, dass ein angesehener Staatsrechtler, Professor Dr.Martin Burgi, in einem Gutachten für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes feststellte. Dieser Paragraf 175 war von vornherein grundgesetzwidrig.

Was folgt daraus?

Ein Gesetz muss die Unrechtsurteile nach §175 aufheben (Rehabilitation) sowie eine individuelle und kollektive Entschädigung regeln. Und zwar dringend noch in dieser laufenden, 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags!

Warum individuelle und kollektive Entschädigung? Dazu ein paar Worte zur Situation und zum Leiden der betroffenen Männer in der jungen Bundesrepublik Deutschland..

 

  • Was bedeutete der § 175 für das Leben schwuler Männer bis zum 1. September 1969?

Man kam zwar nicht mehr ins KZ. Aber: Derjenige, dem – im Polizei- und Justizjargon jener Zeit: „unzüchtige Handlungen“ – nachgewiesen werden konnten, musste mit einer Verurteilung nach dem §175 rechnen. Das bedeutete mehr als eine Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe oder in milderen Fällen eine Bewährungs- oder Geldstrafe. Vielmehr zog bereits ein Ermittlungsverfahren, erst Recht eine Verurteilung, Entlassungen und für bestimmte Berufe Berufsverbote nach sich, bedeutete soziale Ächtung, Denunziation und die Gefahr, ständig im Visier der Polizei zu sein.

Schwules Leben war ausgegrenzt auf wenige einschlägige Kneipen, auf Klappen, Parks und bestimmte Badestrände. Diese hatte die Polizei gut im Blick: Razzien waren an der Tagesordnung. Es reichte, an einem einschlägigen Ort angetroffen zu werden, um in einer Schwulenkartei registriert zu werden, den „Rosa Listen“. Im Wiederholungsfall konnte so der polizeiliche Druck erhöht werden.

  • Welche Folgen hatte der §175 für das Leben der Opfer?

Unzählige berufliche und bürgerliche Existenzen wurden zerstört. Viele hielten diesem Druck nicht Stand und nahmen sich in ihrer Verzweiflung das Leben. Andere flüchteten in Scheinehen und blieben unglücklich. Eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit war den meisten Homosexuellen nicht möglich.

Horst, ein schwuler Aktivist, der sich seit den 70er Jahren in Köln engagiert hat, hat uns erst vor knapp zwei Jahren berichtet: „Jawohl, ich habe nach § 175 zwei Jahre auf Bewährung gekriegt. Ich habe aus Angst vor Diskriminierung den Arbeitsplatz gekündigt und mir später eine neue Stelle gesucht.“

Erst knapp zwei Jahre vor seinem Tod – Horst ist vor wenigen Wochen gestorben – hat er darüber mit uns reden können und wollen. So kämpferisch er auch war: Der Makel, vorbestraft zu sein, nagte an ihm und hinderte ihn lange Zeit, sich als Opfer zu offenbaren. Er wollte nicht als zu Unrecht verurteilter Straftäter sterben. Er wollte rehabilitiert und entschädigt werden. Schicksale wie das von Horst sind uns moralische Verpflichtung und politischer Auftrag: Rehabilitierung und Entschädigungsregelung jetzt!

Viele andere haben ihre Verurteilung und Ächtung nie überwinden können. Sie waren und bleiben traumatisiert. Sie wagen es nicht, sich im Altenpflegeheim zu outen, weil sie weiterhin Scham und Angst vor Ächtung und Diskriminierung haben. Sie leben weiterhin versteckt. Sie konnten und können ihre Persönlichkeit nie frei entfalten.

  • Diesen Opfern fühlt sich BISS als Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren verpflichtet. Was folgt daraus?

Wir wollen nicht, dass Menschen wie Horst noch länger mit dem selbst so empfundenen Makel eines zu Unrecht verurteilten Straftäters sterben müssen. Daher fordern wir gemeinsam mit dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland, gemeinsam mit der deutschen Aidshilfe und mit Unterstützung durch weitere Organisationen wie dem Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt:

Aufhebung der Unrechtsurteile – Rehabilitation und individuelle Entschädigung der Opfer – kollektive Entschädigung durch einen Fonds, aus dem Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation älterer LSBTi etwa in der kultursensiblen Versorgung und Pflege gefördert werden. Ein Fonds zur Finanzierung von Verbesserungen, von denen langfristig alle LSBTi im Alter etwas haben – also auch die jungen LSBTi von heute.

Aus diesem Grund startet BISS hier und heute in Bielefeld eine Kampagne: Von Bielefeld aus auf die CSDs in Köln, Hamburg, Frankfurt und Berlin und in ganz NRW. Dort wollen wir Euch informieren und Euch gewinnen, den politischen Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen.

 

  • Bundesjustizminister Heiko Maas muss Wort halten und rasch einen Gesetzesentwurf zur Rehabilitation und Entschädigung einbringen!

Bundesjustizminister Heiko Maas hat gleich nach der Veröffentlichung besagten Gutachtens einen Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode angekündigt: Dieser soll die Aufhebung der Urteile und die Entschädigungsansprüche regeln.

Wir wollen, dass der Ankündigung Taten folgen!

Und zwar bald: Was bis zur Sommerpause 2016 oder direkt danach nicht auf den Weg gebracht wird, schafft es nicht mehr, noch in dieser Legislaturperiode als Gesetz durch Bundestag und Bundesrat verabschiedet zu werden.

Das würde bedeuten: Die Opfer würden auf die nächste Legislaturperiode 2017 bis 2021 vertröstet – weitere würden bis dahin als zu Unrecht verurteilte Straftäter sterben. Das wollen und müssen wir verhindert!

Wer von uns kann schon heute wissen, welche Mehrheit uns ab 2017 regieren wird?! Natürlich wollen wir eine AfD im Bundestag verhindern – natürlich wollen wir verhindern, dass eine rechte Mehrheit eine Chance hat, ein gesellschaftliches Roll Back zu betreiben und LSBTi aktiv zu bekämpfen! Gerade deshalb benötigen wir ein kräftiges politisches Signal und politische Taten. Denn:

  • Was Du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf übermorgen!

So lautet ein altes Sprichwort- Fürwahr: Das aktuelle, historische Zeitfenster, das sich im Mai durch das Rechtsgutachten geöffnet hat, wollen und müssen wir nutzen!

Bundesjustizminister Maas ist gefordert, seiner Ankündigung Taten folgen zu lassen. !

Nur ein Gesetzentwurf, der aus seinem Hause kommt, hat eine Chance, noch mehrheitsfähig zu werden und die Hürden des Gesetzgebungsverfahrens zu nehmen. Wir erkennen an, dass Bündnisgrüne und LINKE bereit stehen und eigene Gesetzentwürfe einbringen könnten. Wir haben aber auch die Sorge, dass eigene Gesetzesinitiativen aus der Opposition an der Übermacht der großen Koalition zerschellen.

Daher muss Bundesjustizminister Maas bis allerspätestens Ende der Sommerpause „liefern“! Er allein steht in der Verantwortung, dieses überfällige Gesetz zugunsten einer Rehabilitierung und Entschädigung auf den Weg zu bringen! Wir hoffen, dass er sich dieser politischen und moralischen Verantwortung bewusst ist und handelt!

  • Sigmar Fischer: Zum Schluss eine persönliche Anmerkung.

 

Ich bin seit fast 50 Jahren Mitglied der SPD. Da gibt es bei Wahlen einen gewissen Automatismus bei der Stimmabgabe. Das eine oder andere Mal vielleicht zähneknirschend oder unter Bauchweh. So noch 2013, als ich befürchtete, dass meine Stimme sich als eine für die Große Koalition herausstellen würde. Was ja auch eingetreten ist.

Mit Blick auf 2017 erkläre ich unzweideutig: Ob der Bundesjustizminister liefert und die Große Koalition das von BISS, LSVD, Deutscher Aidshilfe und vielen anderen geforderte Gesetz zur Rehabilitation und Entschädigung auf den Weg bringt, wird mein persönlicher Wahlprüfstein sein. Liefert sie als Regierungspartei nicht, kann und will ich meine eigene Partei 2017 nicht wählen! Es liegt an Heiko Maas und Vizekanzler Sigmar Gabriel, mir diesen Gewissenskonflikt zu ersparen. Handelt jetzt und scheut keine Konflikte mit dem Koalitionspartner, auch aus Verantwortung gegenüber den Opfern des §175!